Kurs TECC

Die Rettungsfahrzeuge versuchen, durch das Gedränge zum Einsatzort zu gelangen. Dort warten die Einsatzkräfte der Ambulanz ausgerüstet mit Schutzhelmen, Schusswesten und Erste-Hilfe-Material in unmittelbarer Nähe der Interventionsgruppe. An diesem Septemberabend 2017 wurde erstmals in Europa, im Rahmen einer TECC-Ausbildung, eine «Eins-zu-Eins-Übung» erfolgreich abgeschlossen.

 

Kurs TECC – Eins-zu-Eins-Übung

Sie verteilen sich in Vierergruppen und setzen sich in Bewegung. Sobald die Teilnehmer die Eingangstüre des Einkaufszentrums betreten ertönen Hilferufe von allen Seiten und die Panik im Gebäude ist spürbar. Die Gesichter sind angespannt. Alle haben die Information erhalten, dass sich im Inneren des Zentrums eine bewaffnete Person befindet.
Kommuniziert wird ausschliesslich mit Gesten. Als eine der Gruppe am Ende der Rolltreppe ankommt, findet sie dort bereits das erste Opfer vor einem Geschäft. Der Mann hat sehr viel Blut verloren. Mit grosser Vorsicht nähert sich das Team dem Opfer. Beim Verletzten angekommen, handeln die beiden Sanitäter präzise und schnell, um den Zustand des Patienten zu stabilisieren. Der Mann erlitt eine Schussverletzung. Er ist am Leben. Unter Schutz der Spezialeinheit der Polizei legen sie dem Opfer einen Druckverband an. In weniger als zwei Minuten ist der Verletzte auf einer Trage und wird ins Verletztenlager transportiert.

 

Jérôme Anzenberger – Nationaler Koordinator für die NAEMT

Interview

Jérôme Anzenberger

Nationaler Koordinator für die NAEMT

Jérôme, was steckt hinter der Ausbildung TECC?

TECC (Tactical Emergency Casualy Care oder taktische Hilfe für Verletzte in Notsituationen) ist eine von der NAEMT (Amerikanische Vereinigung der prästationären Behandlung) entwickelte Ausbildung, welche weltweit die grösste Organisation bzw. Ausbildung dieser Art ist. Die Schulungen werden in vielen Ländern einheitlich durchgeführt. TECC nutzt die militärtaktische Medizin TCCC (Tactical Combat Casuality Care), welche ursprünglich für die amerikanischen Spezialeinheiten gedacht war und inzwischen den zivilen Anforderungen angepasst wurde.

Am 20. April 1999 ereignete sich in der Colombine High-School im Bundesstaat Colorado eine Schiesserei. Zwölf Schüler und ein Lehrer verloren dabei ihr Leben. 24 weitere Schüler wurden verletzt. Damals verloren einige Opfer ihr Leben, weil die Spezialeinheiten der Polizei die Gefahrenzonen nicht rechtzeitig sichern konnten, damit die Rettungskräfte den Opfern Hilfe leisten konnten. TECC ist das Produkt, welches aus diesem dramatischen Ereignis entstanden ist. Heute intervenieren die zivilen Rettungstruppen direkt unter dem Schutz der Polizei. Dadurch gewinnen sie wertvolle Zeit, um eine Grosszahl von Opfern, welche sich in der nicht gesicherten Zone befinden, zu retten.

Was ist die Besonderheit dieser TECC Ausbildung?

Bei einem Ereignis wie beispielsweise AMOK oder Terroranschlag muss die Behandlungszeit für jeden Patienten effizient sein, weil das Risiko unter diesen Bedingungen besonders gross ist. Folglich verläuft die Patientenaufnahme «aggressiver» als üblich.

Bei Ereignissen dieser Art vermindert der Stress unsere Kompetenzen. Wir instruieren daher Massnahmen, welche einfacher und situationsgerechter sind, um die Patienten ins Verletztenlager und somit in eine gesicherte Zone transportieren zu können. In diesem Bereich, welcher ausschliesslich der Hilfeleistung dient, übernehmen die Ärzte die medizinische die Versorgung.

Dieses Konzept ist sehr dynamisch und wird periodisch neu bewertet, da die Einsatzkräfte immer wieder mit unterschiedlichen bzw. neuen Situationen konfrontiert werden. Deshalb sind Anpassungen immer wieder notwendig.

Wer leitet gemäss dem Model TECC bei schwerwiegenden Ereignissen das Geschehen vor Ort?

Sobald wir von einem Terrorakt oder AMOK sprechen, hat die Polizei in der ungesicherten Zone die Einsatzführung. Dies auch aufgrund der gerichtspolizeilichen Ermittlungen. Im gesicherten Bereich hat jedoch das medizinische Personal die Verantwortung.

Wie haben die verschiedenen «Blaulicht-Partner» auf diese Ausbildung reagiert?

Obschon wir nicht alle dieselbe Sprache sprechen, reden wir doch alle vom Gleichen. Es handelt sich um die einzige gemeinsame Ausbildung in dieser Form. Sie ist für sämtliche Partnerorganisationen von grosser Bedeutung. Auf Teilnehmerebene fiel das Feedback immer sehr positiv aus. Zu erwähnen gilt auch die Unterstützung durch den Zivilschutz, welcher die Teilnehmer wertvoll im Bereich der Logistik unterstützt hat.

 

Andrei Paraschiv

Begegnung

Andrei Paraschiv

Instruktor TCC und TECC – Sanitäter in der Fremdenlegion seit 2002 – Ausbildner an der « Ecole de Val de Grâce » im Fachgebiet Reanimation von Verletzten im Kriegsgebiet

Die Ausbildung „TECC“ fördert primär die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Situationen, welche aufgrund ihrer Komplexität in gewöhnlichen Trainings nur schwer umsetzbar sind. Auf diesem Gebiet hat die Schweiz gegenüber anderen europäischen Ländern einen grossen Fortschritt erzielt, weil es die entsprechenden Behörden und Organisationen ermöglicht haben, diese Trainings in öffentlichen Räumen durchführen zu können. Dadurch erhalten die Spezialeinheiten – wie etwa die Interventionsgruppen oder der Dienst „SMUR“ (frz. Service mobile d’urgence et de réanimation, vergleichbar Notarzt) – die Möglichkeit, unter reellen Bedingungen ihre Einsatztaktik und -mittel anzuwenden. Seitens der Teilnehmer gab es durchwegs positive Feedbacks, da mit einer Ausbildungsdauer von 16 Stunden bereits ein beachtlicher Fortschritt erzielt werden konnte.

Daneben sind jene Herausforderungen hervorzuheben, welche sich im Zusammenhang mit der Opferbetreuung innerhalb des „feindlichen Umfelds“ ergeben. Inspiriert von Konzepten der Armee ging es darum, diese Prozesse an die zivilen Verhältnisse anzupassen, wobei ein spezielles Augenmerk auf die methodischen und didaktischen Aspekte gerichtet wurde. Um in aussergewöhnlichen Situationen den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe zu fördern und zugleich den Ausbildungsfortschritt sicherzustellen, hat es sich bewährt, bei solchen Szenarien einen permanenten physischen und psychischen Stress einfliessen zu lassen. Die erlangten Kompetenzen können im Ernstfall Leben retten. Neben diesen fachlichen Kompetenzen sind die Berufserfahrung und spezifisches Material weitere wesentliche Erfolgsfaktoren. All diese Faktoren werden innerhalb des europäischen Instruktoren-Teams vereint, was die erzielten Resultate in der Vergangenheit bereits bestätigt haben.

Zum Schluss gebührt ein besonderer Dank den beiden Organisationen „NAEMT Schweiz“ und „NAEMT Europa“, welche das Wissen und die langjährige Berufserfahrung ihrer Instruktoren in den Kurs einfliessen liessen. Ein weiterer Dank geht an das Unternehmen „Edelstar“, welches in diesem Ausbildungsmodul stark eingebunden war. Nicht zu vergessen ist die Abteilung Intervention der Kantonspolizei Wallis, welche mit ihren Instruktoren, Auszubildenden und Statisten ein weiteres wichtiges Element bildete und ein vorbildliches Engagement zeigte. Dank dieser Ausbildung können die Spezialisten bei einer Bedrohung rasch und effizient handeln. Dies mit dem Ziel, im Ernstfall ein Maximum an Leben retten zu können.

 

Dr. Claude Haller

Interview

Dr Claude Haller

Chefarzt der chirurgischen Abteilung
Leiter der Abteilung Gefässchirurgie des Spitals von Sitten
Medizinisches Direktionsmitglied der TECC (Tactical Emergency Casualty Care)

Dr. Claude Haller, welchen Mehrwert bringt ein solcher Kurs?

Die Stärke dieses Kurses, und ich denke es ist wichtig diesen Punkt hervorzuheben, besteht darin, dass er Polizei, Ärzte, Sanitäter und Feuerwehrleute zusammenbringt. Dieser Kurs vereint alle Blaulichtorganisationen, die oft in der Praxis zusammenarbeiten, aber gemeinsam nur wenige Übungen organisieren. Das ist jedoch unerlässlich und macht diesen Kurs auch interessant. Bei genau diesen Übungen sieht man wo es nicht klappt und wie wichtig die Kommunikation ist. Wir stellen auch fest, dass die Wege des Verstehens und Funktionierens nicht ganz die gleichen sind. Das hilft die Dinge zu verfeinern und ist natürlich sehr wichtig. Alle Teilnehmer sagten, dass es unglaublich war, dass sie mit allen zusammen gearbeitet haben und dass es allen gelungen ist, ihren Platz zu finden. Die Zusammenarbeit hat sehr gut funktioniert und jeder versteht die Tätigkeit des anderen besser.

Dieser TECC-Kurs wurde im Maßstab 1:1 in einem großen Einkaufszentrum durchgeführt. Gemäss den Erklärungen der anwesenden Dozenten (Anmerkung der Redaktion: 4 Schweizer und 4 Franzosen) und der Teilnehmer war die Inszenierung in einem so realitätsnahen Kontext noch nie zuvor gesehen worden. Was könnte noch verbessert werden?

Bislang wurde die Übung bis zum Patientenbett der Verletzten gespielt und simuliert wie die Patienten das Krankenhaus verlassen. Der nächste Schritt wäre, die Patienten zu betreuen und sie mit der Ambulanz in ein Krankenhaus zu bringen. In diesem Fall würden wir uns organisieren, um ein zweites Team wie in der Notaufnahme von Sitten zu haben das für die Aufnahme dieses Zustroms von Patienten verantwortlich ist. Deshalb möchten wir diesen zusätzlichen Übungsteil in Siders durchführen, da die Notaufnahme dieses Krankenhauses abends geschlossen ist. Dadurch können wir von der gesamten Infrastruktur profitieren. Man könnte dann die Komplexität des Transports von Logistik und Ausrüstung erkennen. Wenn es uns gelingt dies zu erreichen, haben wir eine Simulation durchgeführt die der Realität vom Anfang bis zum Ende sehr nahe kommt.

 

Alain Rittiner

Interview

Alain Rittiner

Chef-Ambulanzdienst des Kantons Wallis (ACS – KWRO)

Welches waren deine Eindrücke, nachdem du an dieser Übung im Einkaufszentrum MANOR eins zu eins teilgenommen hast?

Der Ansatz der gezeigt wurde, war unserem sehr ähnlich. Die Übernahme und Versorgung der Verletzten muss jedoch bei uns noch optimiert werden. Mit anderen Worten: Es ist nicht zwingend notwendig, dass unser medizinisches Personal unter dem Schutz der Kantonspolizei die Opfer bergen muss. Solche Aufgaben (z.B. das Anlegen eines Tourniquets oder eines Druckverbandes) können auch unsere Partner (Zivilschutz und Feuerwehr) übernehmen. Bei solchen Interventionen sind wir uns alle einig, dass es wichtig ist, keine Zeit zu verschwenden.

Ist es möglich, die vom «TECC» empfohlene Opferbetreuung im Falle eines Grossereignisses – wie z.B. bei einem AMOK – auf eine sehr gut strukturierte Organisation, wie es die KWRO ist, zu übertragen?

Selbstverständlich kann dies innerhalb der KWRO umgesetzt werden. Es ist aber wichtig, die verschiedenen Bereiche abzugrenzen und das Sanitätspersonal entsprechend seiner Fähigkeiten einzusetzen. Damit das Überleben der Patienten gewährleistet werden kann, ist es unerlässlich, das medizinische Personal an der Sanitätshilfestelle einzusetzen und die Evakuierung der Verwundeten aufgrund ihrer Erstprognose mit den richtigen Mitteln, ins richtige Spital zu überführen.
Hervorzuheben ist die ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen der Kantonspolizei und dem KWRO bei der Erstellung eines allgemeinen Interventionsplans für diese Art von Ereignissen.

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