Und plötzlich war alles anders

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Tagelange, ja wochenlange Regengüsse und eine für die Jahreszeit ungewöhnlich hohe Nullgradgrenze waren die Vorboten eines Ereignisses, an das niemand nur zu denken wagte. Der 24. September 1993 brannte sich nachhaltig in das Gedächtnis der Bevölkerung von Brig-Glis ein, denn, plötzlich war alles anders.

Der September 1993 war geprägt von Dauerregen und sintflutartigen Regengüssen, wie sie nur selten vorkommen. Wo viele Regionen von den grossen Wassermengen verschont blieben, hielt das Genuatief vor allem über den Simplon aber auch im Saaser- und Mattertal Einzug. Und es schlug mit voller Wucht zu. Die Saltina und deren Seitenbäche sowie die Gamsa schwollen in kürzester Zeit sehr stark an.

Foto: © René Ritler, Mediathek Wallis - Martinach

Die Betriebsfeuerwehr der Societé Suisse des Explosifs (SSE) ordnete am 24. September bereits Anfang des Nachmittages in Gamsen Sofortmassnahmen in Form von Wassersperren an der Gamsa an. Die Saltinabrücke in Brig schien zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefährdet.

Erstmals alarmiert wurde die Feuerwehr um 14:35 Uhr aufgrund eines Hilfebegehrens für Pumparbeiten im Spital von Brig. Als Sofortmassnahme wurden im Bereich der Saltina und in den Kellern der Spitalstrasse Absperrungen vorgenommen.

Wir haben viele Szenarien geübt. Aber auf ein solches Ereignis kann man sich nicht vorbereiten.

Der damalige Stadtpräsident von Brig-Glis und heute 82-jährige Rolf Escher weiss noch genau, wo er an diesem Tag, der sein Leben verändern sollte, war. «Jedes Jahr im Herbst hatten wir den Ausflug der ehemaligen Mitglieder des Stadtrats, welcher uns in jenem Jahr ins Fieschertal führte. Mir als amtierenden Stadtpräsidenten war es jeweils ein Anliegen, daran teilzunehmen. » Den ganzen Tag, ja gar wochenlang habe es wie aus Kübeln geregnet. «Und es war warm, bis in die Höheren Lagen», erinnert sich Escher. «Wir waren fröhlich, haben gut gegessen und zusammen angestossen.» Keiner ahnte wohl, was sich in Brig-Glis zu diesem Zeitpunkt anbahnte. «Plötzlich kam ein Anruf. Es war der damalige Polizeichef der Stadtgemeinde Brig-Glis. Er sagte mir, dass die Saltina jeden Moment überlaufen werde.» Escher weiss noch genau, wie er darauf reagiert hat: «Ähh ihr spinnt, schon gut, wir kommen später ja dann sowieso wieder hinunter ins Tal.» Doch der zweite Anruf liess nicht lange auf sich warten. Rund 45 Minuten später rief der Polizeichef den Präsidenten erneut an. «Die Saltina ist nun übergelaufen.» So beschloss Escher, nach Brig zu fahren, um sich ein Bild der Situation zu machen.

Foto: © René Ritler, Mediathek Wallis - Martinach

In Naters sei der gesamte Verkehr stillgestanden. Der Bahnhofplatz stand bereits einen Meter unter Wasser, die Saltinabrücke über die Bahnhofstrasse zu erreichen, unmöglich. Nur über mühsame Umwege erreichte Escher Rolf die Kanzlei im Stockalperschloss. «Von dort aus sah ich immer gut hinunter auf die Saltinabrücke. Es war furchtbar.» Bagger hätten versucht, das Wasser mittels schweren Elementen wieder in seine Bahnen zu lenken. Doch all das blieb erfolglos. Während rund 16 Stunden strömte zuvor angelagertes Geschiebe der reissenden Saltina ungehindert in die Briger Innenstadt. Steine, Schlamm und Wasser verschlangen die Erdgeschosse und Keller der Häuser. Die Einwohner mussten in die oberen Stockwerke flüchten. Bis zu drei Meter hoch türmte sich das Geschiebe. Zunächst schien die Katastrophe hauptsächlich Sachschaden zu verursachen. Bis Mitternacht gab es keine Vermisstenanzeigen.

Foto: © René Ritler, Mediathek Wallis - Martinach

Ich verspürte eine tiefe Hilflosigkeit.

In den ersten Stunden habe Escher Rolf nur funktioniert und seine Aufgabe bestmöglich zu bewältigen versucht. «Ein Gedanke trat mir wie ein Blitz in meinen Kopf: Du wirst nun für lange Zeit ein komplett anderes Leben haben. Die bevorstehende Zeit wird die wichtigste Zeit in deinem Leben. Probier es bestmöglich zu machen! » Escher Rolf war sich seiner Aufgabe bestens bewusst: Brig-Glis in ein lebenswertes Leben zurückzuführen. Doch zu diesem Zeitpunkt schien die Zukunft der Stadt ungewiss, wurde sie doch am nächsten Tag zum Katastrophengebiet erklärt. Die Polizei blockierte den Zugang für alle Nichteinwohner. Der unmittelbar am Tage der Katastrophe einberufene kommunale Führungsstab war für einen Einsatz, welcher nicht nur über Tage, sondern über Wochen und Monate andauern sollte, ungeeignet.

Mir war sofort klar, ich brauche einen neuen Krisenstab.

Aus diesem Grunde wurde unverzüglich ein neuer, professioneller Stab formiert, der bereits am 27. September 1993 funktionierte.

Foto: © René Ritler, Mediathek Wallis - Martinach

Erst als der Regen nachliess, zeigte sich das gesamte Ausmass der Katastrophe. 250’000 Kubikmeter (etwa 20’000 Lastwagenladungen) Schlamm, Sand und Geschiebe prägten das Bild der Briger Innenstadt. Zwei Personen fielen dem Unwetter zum Opfer. Was folgte, waren monatelange Aufräum- und Wiederherstellungsarbeiten. «Die Solidarität, die uns von überall her entgegengebracht wurde, hat mich zutiefst beeindruckt. Ich habe die Schweiz als wahre Eidgenossenschaft wahrgenommen. Das ergreift mich noch heute», erzählt Escher Rolf. In grösster Fleissarbeit wurde Stein um Stein neu gelegt, um der Stadt neuen Glanz zu verleihen. Just zum ersten Jahrestag folgte die symbolische Wiedereröffnung im Schlossgarten des Stockalperschlosses. Normalität sei zurückgekehrt und mit ihr auch wieder einige kleinere Streitereien, für welche zuvor schlicht keine Zeit gewesen sei oder die Kraft gefehlt habe.

Wir streiten wieder, es geht uns offensichtlich wieder besser

Foto: © René Ritler, Mediathek Wallis - Martinach

30 Jahre sind nun vergangen. Es sei jedoch kein Anlass, der zum Feiern bewegt, so Escher Rolf. Wie jedes Jahr wird aber auf dem Briger Bahnhofplatz eine Andacht durchgeführt. Zudem wird die Feuerwehr die vier Jahre nach dem verheerenden Hochwasser erbaute Saltinabrücke heben, an der die Katastrophe ihren Anfang nahm.

Im italienisch angehauchten Städtchen erinnert heute nur noch wenig an den 24. September 1993, an den Tag, an dem plötzlich alles anders war. Für den Alt-Stadtpräsidenten ist indes klar: «Es soll in Erinnerung bleiben, damit die Wachsamkeit nicht entschläft.»

Foto: © René Ritler, Mediathek Wallis – Martinach

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